Artikel: "High-tech an der Fleischtheke"

NZZ-Artikel über den Metro-Future Store in Tönisvorst

18.10.2010
Von Claudia Wirz
Quelle: www.nzz.ch/nachrichten/startseite/hightech_an_der_fleischtheke_1.8038977.html

Hightech an der Fleischtheke

Im «Future-Store» im deutschen Tönisvorst wird der intelligente Supermarkt getestet
Auch Einkaufen ist nicht mehr das, was es einmal war. Gemüsewaagen denken plötzlich mit, das Handy wird zum virtuellen Einkaufszettel oder Figurcoach, und bezahlt wird per Fingerabdruck. Nicht alle neuen Technologien stossen indes auf Anklang.
In der Stadt Tönisvorst ist die Zukunft schon angekommen. Zumindest soweit es das Einkaufen betrifft. Hier im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen unterhält das Handelsunternehmen Metro Group zusammen mit über 90 Partnern aus Handel, Konsumgüterindustrie und dem IT-Bereich den Supermarkt der Zukunft. Der «Real Future-Store», wie er offiziell heisst, wurde 2008 eröffnet und ist in seiner Art weltweit einzigartig, wie der Projektverantwortliche Gerd Wolfram sagt. Er ist sozusagen ein Labor, eine Zukunftswerkstatt für neue technische Innovationen im Detailhandel.
Der Kunde im Labor
Solche Laborläden gibt es zwar auch andernorts. Zum Beispiel unterhält die Migros im zürcherischen Regensdorf zusammen mit dem Software-Hersteller SAP und der Universität St. Gallen einen Laden, in dem ebenfalls die neusten Einkaufs-Technologien getestet werden. Doch dieser ist in der Tat nur ein Labor im engeren Sinne. Reale Kundschaft sucht man hier vergeblich, und richtig etwas zu kaufen gibt es auch nicht, höchstens Führungen sind laut Migros-Sprecherin Monika Weibel allenfalls zu haben.
Ganz anders in Tönisvorst. Hier werden die neuen Innovationen unter realen Marktbedingungen getestet, und zwar im grossen Stil. Auf 8600 Quadratmetern Verkaufsfläche kann die Kundschaft hier Bekanntschaft machen mit allerlei technischen und konzeptionellen Neuheiten. Kommen die Innovationen an, werden sie gegebenenfalls in anderen Supermarkt-Filialen standardmässig umgesetzt. Fallen sie hingegen durch, schreibt man sie ab. Angeboten werden in Tönisvorst 65 000 Produkte, der Supermarkt beschäftigt 190 Mitarbeitende.
Zentrales Thema ist gegenwärtig das, was man «mobiles Einkaufen» nennt, wie Wolfram erklärt. Das Handy des Kunden wird im Future-Store zum Mobilen Einkaufsassistenten (MEA), sofern der Kunde dies will. Im 2003 eröffneten Vorgänger des heutigen Future-Store war der MEA noch ein separates Gerät für den Einkaufswagen gewesen. Heute macht man sich den Umstand zunutze, dass das Handy für einen Gutteil der Bevölkerung ein ständiger Begleiter ist. Deshalb wird den Kunden statt eines separaten Geräts eine Softwareplattform angeboten, die das Einkaufen per Handy ermöglicht. Kreditkarte und Portemonnaie können ganz zu Hause bleiben. Bezahlt wird bei diesem System über eine Funkverbindung, welche das Handy mit der Kasse aufnimmt. Der Betrag wird dann automatisch vom Konto abgebucht. Damit spart man Zeit und braucht sich nicht in lange Schlangen vor der Kasse einzureihen.
Der MEA wäre jedoch kein MEA, wenn er nur bezahlen könnte. Er kann noch viel mehr. Zum Beispiel planen und führen. So können Kunden mit der Handy-Kamera schon zu Hause am Kühlschrank oder beim Küchenregal Produkte einscannen, die ersetzt oder nachgekauft werden müssen. Das Handy erstellt dann eine Einkaufsliste. Für all jene, die nicht wissen, was sie kochen sollen, bietet die Softwareplattform auch Rezepte an, die von Starkoch Armin Auer vorgeschlagen werden. Die Zutaten werden nach Wunsch auf die Einkaufsliste gesetzt, und der Kochvorgang kann per Video betrachtet werden. Und wer ein paar überschüssige Pfunde loswerden will, kann schliesslich einen virtuellen Figurcoach zu Rate ziehen, der beim Kalorienzählen hilft.
Das mobile Einkaufen funktioniere auf rund 650 Handy-Modellen, sagt Wolfram, für das iPhone gibt es eine App. Damit Jugendliche nicht in Versuchung kommen, müssen Tabakwaren und Alkohol separat freigeschaltet werden. Damit sei der Jugendschutz gewährleistet. Wer wiederum keinen MEA hat oder haben will, kann sich vor Ort an zwei Terminals über Produkte, Rezepte oder Ernährungstipps informieren lassen. Die Informationen können dann ausgedruckt und zum Einkauf mitgenommen werden.
Der Future-Store hat natürlich noch mehr künstliche Intelligenz zu bieten. Vorbei sind – sofern man das will – die Zeiten, wo man in der Gemüseabteilung bei der Waage mühsam nach der richtigen Nummer suchen musste, womöglich noch unter den ungeduldigen Blicken wartender Kunden. Diese Aufgabe übernimmt im Future-Store die Waage gleich selber. Eine eingebaute Kamera erkennt die Ware von selbst und druckt die Etikette aus, die der Kunde nur noch zu bestätigen braucht. Die «intelligente Waage» hat sich so bewährt, dass sie mittlerweile standardmässig in Real-Supermärkten eingesetzt wird, wie Wolfram sagt.
Und freilich ist im Future-Store auch die Radiofrequenz-Identifikationstechnologie (RFID) ein Thema. Diese Funk-Chips, welche heute weltweit vorab in der Logistik, etwa beim Management von Containern, verwendet werden, kommen im Future-Store – soweit es den Produktebereich betrifft – an der Fleischtheke zum Einsatz – und zwar nur dort. Die Chips melden dem angegliederten und für den Kunden einsehbaren Fleischverarbeitungsbetrieb, wenn in der Kühltruhe zum Beispiel die Schnitzel zur Neige gehen. So kann die Fleischverarbeitung gezielt der Nachfrage folgend Produkte herstellen.
Getestet werden im Future-Store auch Sortiments-Innovationen. Ihr Ziel ist das gleiche wie jenes der technischen Neuheiten: Sie sollen die Kunden binden und in Kaufstimmung bringen. Auf dem «Fischmarkt» versucht man dieses Ziel etwa mit künstlichem Meeresrauschen und dem Versprühen eines Limonenduftes zu erreichen.
Ungeliebter Fingerprint
Die Innovationen kommen wohl in der Regel gut an. Darauf lassen zumindest die Umsatzzahlen schliessen. Laut Wolfram stieg nach dem ersten Geschäftsjahr der Umsatz im Vergleich zum Vorjahres-Standard um 15 Prozent, bei den Kunden konnte man um 20 Prozent zulegen. Eine Technologie wurde von den Kunden jedoch nicht akzeptiert: Das Bezahlen per elektronischem Fingerabdruck fand keine Gnade, obwohl der Datenschutz, wie Wolfram versichert, wie bei all den anderen Technologien auch gewährleistet war und das Verfahren technisch einwandfrei lief. Das Projekt wurde wegen mangelnder Akzeptanz begraben.
Anders in der Schweiz. Für Coop ist das Bezahlen per Fingerabdruck eine Idee, die man bei Gelegenheit näher prüfen möchte, wie Coop-Sprecher Nicolas Schmied sagt. Sollte sich zeigen, dass sie ein Potenzial berge, sei ein Pilotbetrieb nicht ausgeschlossen. Ziel eines solchen Zahlungsverfahrens ist es, die Wartezeiten an den Kassen zu verkürzen. Diesen Anspruch verfolgt Coop bereits mit dem Passabene-System. Laut Schmied sind zurzeit landesweit 75 Filialen mit dem System ausgerüstet, bei dem der Kunde seine Waren selber einscannt. Bei der Kundschaft sei das System beliebt, meint Schmied, und zwar nicht nur unter den technisch affinen jüngeren. Geschätzt werde es vor allem bei den grösseren Einkäufen. – Bei Migros gibt man sich derweil zwar interessiert, aber verhaltener. Freilich verfolge man die neuesten Entwicklungen bei den Einkaufstechnologien, sagt Sprecherin Monika Weibel. Bis jetzt haben diese den Migros-Einkaufsalltag allerdings noch nicht verändert.

Im Anschluss an den Artikel findet sich ein Interview (ebenfalls von Claudia Wirz) mit Thomas Rudolph, Professor für Handelsmanagement an der Universität St. Gallen, über den Einzug der Hightech in den Verkaufsalltag; das Interview steht – wen überraschts? – unter dem Titel «‹Über die Hälfte der Kaufentscheide fällt erst am Kaufregal'»: www.nzz.ch/nachrichten/startseite/ueber_die_haelfte_der_kaufentscheide_faellt_erst_am_kaufregal_1.8038979.html